Abschluss des zweiten Psychiatriedialogs

Abschluss des zweiten Psychiatriedialoges – wesentliche Handlungsempfehlungen als Rückenwind für die Gemeindepsychiatrie

Die Aktion Psychisch Kranke e.V. (APK) hat kürzlich den zweiten Psychiatriedialog abgeschlossen und umfangreiche Handlungsempfehlungen* zur Weiterentwicklung der Hilfen für psychisch erkrankte Menschen veröffentlicht. Diese Empfehlungen stärken die Position der gemeindepsychiatrischen Träger und bieten eine wertvolle Argumentationsgrundlage für die Durchsetzung langjähriger Forderungen.

Hintergrund des Psychiatriedialoges

Der Psychiatriedialog wurde vom Bundesministerium für Gesundheit (BMG) initiiert und von der APK organisiert und moderiert. Während der erste Dialog (2018-2022) sich vorrangig auf den Bereich der Behandlung im SGB V konzentrierte, fokussierte die Fortführung (2023-2025) auf die wichtigen Schnittstellen zwischen verschiedenen Leistungsbereichen:

  • Zwangsvermeidung und Selbstbestimmung
  • Teilhabe an Gesundheit – Medizinische Rehabilitation
  • Schnittstelle Behandlung und Teilhabe an der Arbeit und Beschäftigung
  • Schnittstelle Soziale Teilhabe
  • Partizipation

Die Empfehlungen wurden unter Beteiligung von Fach- und Berufsverbänden, der Selbsthilfe und der Selbstverwaltung in einem breiten Konsensprozess erarbeitet. Damit haben sie offiziellen Charakter und können als Richtschnur für die Zusammenarbeit aller Beteiligten im psychiatrischen Hilfesystem dienen.

Handlungsempfehlungen des zweiten Psychiatriedialogs – work in progress

Kernpunkte für die Gemeindepsychiatrie

Für Träger der Gemeindepsychiatrie bieten besonders folgende Handlungsempfehlungen wichtigen Rückenwind:

1. Verbindliche Kooperation und Vernetzung – jetzt mit klarem Auftrag

Eine zentrale Empfehlung ist die Etablierung verbindlicher regionaler Verbundstrukturen. Neu und entscheidend: Die Behandlungsangebote, insbesondere Kliniken, werden explizit in die Verantwortung genommen, mit Angeboten der Rehabilitation und Teilhabe im Verbund zu arbeiten. Der Dialog empfiehlt eine gesetzliche Verankerung zur Förderung gemeindepsychiatrischer Verbünde im SGB V und SGB IX.

2. Personenzentrierte Koordination der Hilfen – vom Krankenhaus in die Gemeinde

Die Funktion einer koordinierenden Bezugsperson soll künftig über Leistungsbereichsgrenzen hinweg in personeller Kontinuität sichergestellt werden. Bemerkenswert: Die Empfehlungen fordern ausdrücklich, dass diese Koordination vom Krankenhausaufenthalt beginnend über den gesamten Genesungsprozess erfolgen muss. Gemeindepsychiatrische Träger können nun mit mehr Nachdruck eine frühzeitige Einbindung in die Entlassungsplanung und eine geregelte Übergabe einfordern.

3. Beratung und Zugänge zu Eingliederungshilfen – Einfluss stärken

Die Empfehlungen betonen die Notwendigkeit, Beratungs- und Unterstützungsleistungen im Zugang zu Eingliederungshilfen zu verstärken und Kontakt- und Beratungsstellen flächendeckend abzusichern. Bedarfsermittlungsverfahren sollen vereinfacht und nutzerfreundlicher gestaltet werden. Träger können diese Empfehlungen nutzen, um bei Leistungsträgern auf eine Delegation von Beratungsleistungen zu drängen und ihre Rolle im Zugangsprozess zu stärken.

4. Recovery-Colleges und Peer-Support – neue Legitimation für innovative Ansätze

Der Einsatz von Peers und Genesungsbegleitenden wird nicht mehr als “nice to have”, sondern als notwendiger Bestandteil jedes Angebots definiert. Die Empfehlungen fordern, dass Recovery-Colleges als Bildungsangebote über die Präventions- und Selbsthilfeförderung abgesichert werden. Träger, die entsprechende Konzepte vorlegen, können sich nun auf einen klaren Auftrag berufen.

5. Stärkung des Persönlichen Budgets – Autonomie der Klient:innen fördern

Die Handlungsempfehlungen zielen auf eine deutliche Steigerung der Nutzung des Persönlichen Budgets ab. Sie kritisieren ausdrücklich die bisher geringe Inanspruchnahme (unter 1% der Anträge) und fordern die Berücksichtigung der besonderen Bedarfe von Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen. Gemeindepsychiatrische Anbieter können die Empfehlungen nutzen, um von Leistungsträgern mehr Unterstützung für innovative Budget-Konzepte einzufordern.

6. Unabhängiges Beschwerdewesen – Qualitätsentwicklung voranbringen

Beschwerdestellen sollen als fester Bestandteil der regionalen Versorgung etabliert und finanziell abgesichert werden – unabhängig von den Einrichtungen der psychiatrischen Versorgung. Träger können diese Empfehlung als Aufforderung verstehen, partizipative Beschwerdestrukturen zu entwickeln und deren Finanzierung einzufordern.

Ausblick für die Praxis: Handlungsempfehlungen als Hebel nutzen

Die Handlungsempfehlungen bieten allen Akteuren im psychiatrischen Hilfesystem eine fundierte gemeinsame Grundlage für die Weiterentwicklung der Zusammenarbeit:

  • Für eine verbesserte sektorenübergreifende Kooperation können alle Beteiligten – Kliniken wie gemeindepsychiatrische Träger – auf den klaren Auftrag zur Etablierung verbindlicher Verbundstrukturen zurückgreifen
  • Bei der Optimierung des Entlassmanagements helfen die konkreten Vorgaben zur personenzentrierten Koordination “vom Krankenhaus beginnend” allen Beteiligten, gemeinsame Standards zu entwickeln
  • Für den Ausbau innovativer Ansätze wie Recovery-Colleges oder Peer-Arbeit bieten die Empfehlungen eine breite fachliche Legitimation
  • Bei der Entwicklung von Beschwerdestrukturen können alle Versorgungspartner gemeinsam von den Erfahrungen bereits bestehender Modelle profitieren

Die Empfehlungen des Psychiatriedialoges haben durch ihre breite Abstützung (Fachverbände, Selbsthilfe, Ministerium) ein besonderes Gewicht. Sie bieten damit eine wertvolle Orientierung, um im Dialog miteinander bestehende Hürden zu überwinden und gemeinsam die Versorgung psychisch erkrankter Menschen zu verbessern.

Die vollständigen Handlungsempfehlungen können im Detail unter www.psychiatriedialog.de eingesehen werden.


*Die Handlungsempfehlungen sind work in progress: aktuell werden noch allerletzte Änderungswünsche der beteiligten Akteure eingearbeitet.